DOKUARTS
Kanada Fokus
2020

RECLAIMING HISTORIES – New Canadian Films on Art

Die global geführten Diskussionen um kulturelle Aneignung sind längst auch im Alltag der Kulturinstitutionen angelangt. Es geht dabei um Neugestaltung von Erinnerungs- und Repräsentationskultur sowie die Umverteilung von Ressourcen. DOKUARTS blickt im Rahmen des 34. Internationalen Filmfestivals Braunschweig nach Kanada, Land der Einwanderer, das sich mit seiner indigenen Bevölkerung und Zweisprachigkeit schon lange mit Diversität auseinandersetzt und zeigt die Facetten eines notwendigen, nicht immer schmerzfreien Prozesses. RECLAIMING HISTORIES lädt zur Betrachtung eines Spannungsfeldes ein, in dem sich Peripherie und Zentrum neu formieren und über das sich nur eines mit Sicherheit sagen lässt: „We can’t rely on one voice“. (John Berger)

Den Auftakt des Projekts bildete die Deutschlandpremiere von ZIVA POSTEC. THE EDITOR BEHIND THE FILM SHOAH von Catherine Hébert im Herbst 2019 im Rahmen der 12. Ausgabe von DOKUARTS im Deutschen Historischen Museum.

Das Filmprogramm wurde im Rahmen des 34. Braunschweig International Film Festival deutschlandweit vom 2.-8. November 2020 gestreamt.

Eine Auswahl von Filmen war im Frühjahr 2021 zusätzlich im Gästezimmer des Kunstvereins Braunschweig zu sehen.

ANTIGONE

Kanada (Quebec) 2020 / 109 min / Farbe / OmeU
Regie: Sophie Deraspe
Cast: Nahéma Ricci, Nour Belkhiria, Rawad El-Zein, Rachida Oussaada

ANTIGONE ist eine fesselnde Adaption der antiken Tragödie des Sophokles über den Widerstreit grundlegender Werte: Recht versus Gerechtigkeit, Familie versus Staat, Liebe versus Überzeugung. Deraspe überträgt den Konflikt ins heutige Montreal, wo die mustergültige Schülerin Antigone (brillant: Nahéma Ricci) als Immigrantin lebt. Als ihr Bruder Étéocle bei einem Polizeieinsatz getötet wird, muss sich die prinzipienfeste junge Frau zwischen Freiheit und Familie entscheiden. Den antiken Chor hat die Quebecer Regisseurin klug durch einen Soundtrack aus Hip-Hop, Pop und nahöstlicher Musik ersetzt. Ihr mehrfach ausgezeichneter Film zeigt auch die Schattenseiten kanadischer Immigrationspolitik.

MY DEAREST SISTER – Deutschlandpremiere

Kanada (Quebec), Japan 2018, 73 min, Farbe, OmeU
Regie: Kyoka Tsukamoto
Cast: Yuuka Bergman, Kyoka Tsukamoto

Auf der Suche nach Aussöhnung unternimmt die 1998 nach Kanada emigrierte Filmemacherin Kyoka Tsukamoto eine mutige Reise zurück nach Japan, um einen persönlichen Essayfilm über ihre Schwester zu drehen, die als erfolgreiche Keramikerin in Fukushima lebt. Tsukamotos Versuche, die Schwester mit dem elterlichen Missbrauch zu konfrontieren, werfen schwierige Fragen von Schuld und Vergebung auf. Mit der legendären Königin Himiko als Schutzpatronin legt die vielseitige Künstlerin in einem intimen Reisebericht die Quellen ihrer Seelenpein offen. Ihr Film reflektiert ihre fragile Identität zwischen Ost und West und verwebt dabei gekonnt persönliches Trauma mit den kollektiven Traumata Japans.

THE SEVEN LAST WORDS
– Deutschlandpremiere

Kanada (Quebec) 2019, 73 min, Farbe und SW, ohne Dialog
Regie: Kaveh Nabatian, Ariane Lorrain, Sophie Goyette, Juan Andrés Arango, Sophie Deraspe, Karl Lemieux, Caroline Monnet
Cast: Luc Beauchemin, Frédéric Bednarz, Nehemiah Brown, Clara Furey

Joseph Haydns Meisterwerk „Die sieben letzten Worte unseres Erlösers am Kreuze” entstand Ende des 18. Jahrhunderts. Filmemacher Kaveh Nabatian, selbst Musiker und Komponist, hat gemeinsam mit sechs Kollegen/Kolleginnen unterschiedlicher kultureller und religiöser Herkunft einen multidisziplinären Film geschaffen, in dem jede/r mit dem je eigenen filmischen Ansatz auf eines der sieben Worte Jesu und den jeweiligen musikalischen Satz Haydns reagiert. Die entstandenen Filme variieren erheblich in Genre und Stil und sind doch allesamt höchst intime und persönliche Meditationen über die großen Themen menschlicher Existenz; so wird THE SEVEN LAST WORDS zu einem fesselnden audiovisuellen Mysterienspiel.

LEPAGE AU SOLEIL: AT THE ORIGINS OF KANATA – Deutschlandpremiere

Kanada (Quebec) 2019 / 90 min / Farbe OmeU
Regie: Hélène Choquette

Im Frühjahr 2016 vertraut Ariane Mnouchkine ihr legendäres Théâtre du Soleil erstmals einem Gastregisseur, dem Kanadier Robert Lepage, an. Mit 36 Schauspieler*innen aus elf verschiedenen Ländern beginnt er die Arbeit an Kanata, einer theatralen Erkundung der Kolonisierung Kanadas. 2018 scheitert das Projekt, als der Theatermacher für die Repräsentation der indigenen Bevölkerung ohne deren direkte Beteiligung ins Kreuzfeuer der Kritik gerät. Choquettes Film polarisiert nicht, sondern dokumentiert Lepages Recherche- und Schaffensprozess, durch den er den Blick öffnet auf die hochaktuelle Debatte um Identität, Repräsentationspolitiken, künstlerische Freiheit und die heutige Aufgabe des Theaters.

LA PART DU DIABLE (THE DEVIL'S SHARE)

Kanada (Quebec) 2017, 102 min, Farbe und SW, OmeU
Regie: Luc Bourdon

Der Montrealer Experimentalfilmemacher Luc Bourdon, der unter anderem für seine Filmcollage LA MÉMOIRE DES ANGES (2008) – eine Hommage an das Montreal der 1950er – bekannt wurde, widmet sich nun der Provinz Quebec der 60er und 70er Jahre. Es ist eine Geschichte der politischen Krise und des Kampfes um Unabhängigkeit, der in der Entstehung einer Terrorzelle gipfelte. Die Found Footage Montage, die 200 Filme aus den Archiven des National Film Board of Canada auswertet, legt auch die Spuren frei, die Kanadas indigene Bevölkerung im Filmarchiv des Landes hinterlassen hat. Bourdons erstaunlicher Film ist ein Plädoyer für den aktiven Umgang mit der Diversität von Identitäten und Geschichten, die sein Land prägt.

WHO LET THE DOGS OUT

Kanada 2019, 70 min, Farbe, engl. OV
Regie: Brent Hodge
Cast: Isaiah Taylor, The Baha Men, Steve Greenberg

Brent Hodge, Filmemacher aus Alberta, bringt mit seinem raffinierten und aufschlussreichen Film über den Jahrtausendwendehit „Who Let The Dogs Out“ einen überraschend anderen Ton in den Kanadafokus. Im klug ausgewählten, von YouTube-Videos beeinflussten Mockumentary-Stil, erkundet Hodge ein für heutige FilmemacherInnen und andere KünstlerInnen hochaktuelles Thema: Was bedeutet Urheberrecht im digitalen Zeitalter? Dabei nutzt der Filmemacher die verzwickte Geschichte eines Trinidader Sprechchors, der zur Stadionhymne wird, und das sie begleitende Copyrightlabyrinth als unterhaltsamen Ausgangspunkt, von dem aus er einen tiefen Einblick in die Musikindustrie ermöglicht.

Indigenous Cinema

Drei Dokumentar-Kurzfilme zeigen eindrucksvoll, wie die jüngere indigene Generation Kanadas die Kunst nutzt, um ihre Geschichte und Kultur zurückzuerobern, Traumata offenzulegen und das Unrecht der noch immer prekären Situation der indigenen Bevölkerung anzuprangern.

TURNING TABLES

Kanada 2018, 17 min, Farbe, OmdU
Regie: Chrisann Hessing

TURNING TABLES dokumentiert die Musikwelten verbindende Arbeit des Produzenten und DJ-Performers Joshua „Classic Roots“ DePerry (Anishinaabe) und seinen energiegeladenen Pow Wow-Techno.

HIP HOP: THE NEW GENERATION
– Deutschlandpremiere

Kanada 2019, 22 min, Farbe, engl. OV
Regie: Kathryn Martin

Kathryn Martins bewegende Dokumentation HIP HOP: THE NEW GENERATION erzählt, wie der Hip-Hop jungen Männern eine Perspektive und eine eigene Stimme verleiht.

PATH WITHOUT END – Internationale Premiere

Kanada 2018, 10 min, Farbe, OmdU
Regie: Cara Mumford
Mit: Christine Friday

In PATH WITHOUT END von Cara Mumford (Métis / Chippewa Cree) verschafft Christine Friday (Temagami / Anishinaabekwe) dem Kampf ihrer Familie um ihr Land tänzerisch Gehör.